Zwei Monate unserer Auszeit verbringen wir, Monika und ich schon im Südwesten Kretas. Wir genießen die nahezu unbegrenzte Freiheit in der Tagesgestaltung, den Spätsommer am Meer in wunderschöner Natur, es ist uns vergönnt Inselglück zu erfahren, heute an diesem Tag etwas ganz Besonderes.
Monika und ich geben einander allen Freiraum für das eigene Tun, sodass wir auch oft getrennte „Tagesprogramme“ haben.
Heute ist es so, dass ich nach dem Frühstück mit Decke, Badehose, Buch und Briefpapier auf den ganz nahen langen Sandstrand gehe um dort Sonne, Meer, Wind, Wellen zu genießen, zu lesen, zu schreiben oder auch einfach nichts zu tun.
Als ich so sitze, denke und auch nicht denke, ins Weite des Meeres schaue, nehme ich das Kommen von Monika in einiger Entfernung wahr. Sie geht über den Strand in die Ortschaft um etwas zu besorgen. Einige Zeit später sehe ich wieder nach ihr – ich weiß, wenn sie diesen Weg geht, kommt sie bei mir vorbei – und nimm wahr, wie sie hockend auf etwas Weißes schaut, das nahe am Wasser liegt. Ich denke an Hund oder Katze, die hier am langen Sandstrand sehr viel frei unterwegs sind. Einige Zeit später sehe ich Monika noch immer unbewegt auf das weiße Etwas schauen. Ich unterbreche meinen Brief an einen Freund, stehe auf und gehe ihr ein paar Schritte entgegen. Monika winkt mir zu, ich solle kommen. Im Näherkommen erkenne ich, dass das weiße Etwas eine Seemöwe ist, die hier im Sand, ganz nahe zu den sanft auslaufenden Wellen, liegt.
Monika erzählt, dass Sie auf dem Weg hierher bereits eine tote Möwe am Strand liegen sah. Und diese Möwe hier liegt ganz ruhig hier, ab und zu erfolglose Versuche sich auf ihre Füße zu erheben … sie kippt nach vorne und bleibt unbewegt liegen. Wir kommen ihr auf ca. 2 m nahe, sie lässt sich durch uns in keiner Weise beeinflussen. Sie hat die Augen wach und klar offen, hält den Kopf aufrecht und bewegt ihn manchmal fast unmerklich.
Monika redet ihr gut zu, wir wollen ihr helfen, aber haben natürlich nicht die leiseste Ahnung wie einer Möwe, die äußerlich völlig unverletzt ist, geholfen werden kann. Wir beobachten sie weiterhin, ihre Versuche sich zu erheben scheitern kläglich, sie scheint völlig kraftlos. Angesichts der Tatsache, dass bereits eine andere Möwe, auch ohne Verletzungen, tot am Strand liegt, nehmen wir an, dass es sich um einen Virus, ein Gift oder was immer handeln könnte und auch diese Möwe im Sterben liegt.
Irgend etwas bewegt mich – und ich tue das grundsätzlich bei allen Tieren gerne – die Möwe streicheln zu wollen. Monika meint ich würde das arme Tier zusätzlich noch ängstigen. Ich erwidere, dass ich ihr Gutes tun wolle und wer denn, wenn nicht ein Tier müsse meine Absicht spüren können. So nähere ich mich dem Tier ganz langsam und beginne mit meinem Finger sie am Kopf zu streicheln. Sie zeigt keinerlei Furcht-oder Angstverhalten, ich bleibe lange bei ihr und streichle dann mit zwei Fingern ihren Hals, ohne irgendeine bemerkbare Reaktion. Ich spüre unter ihren kleinen Federn am Hals das feine Gerippe, ich streichle sie eine Zeit lang an Kopf und Hals und wenn ich wollte konnte ich mir – Monika bestätigt es mir nachher – einbilden, dass sie ihren Hals ab und zu etwas länger macht. Wir beten für das Tier und übergeben ihr Schicksal dann dem Universum.
Monika sagt, bevor sie ihren Weg zum Einkaufen fortsetzt, dass es das Schönste wäre, wenn sie am Rückweg vorbei kommt und ich ihr berichte, dass die Möwe nicht mehr da ist, weil sie weg geflogen ist. Ich hole meine Decke und Sachen vom vorherigen Platz her und lasse mich nun ca. 10 m von der Möwe entfernt nieder. Ich setze meinen Brief fort, füge die Geschichte der Möwe ein und schreibe dazu, dass ich vielleicht noch später dazu etwas berichten kann.
Mein Blick und meine Gedanken kehren immer wieder zur Möwe zurück. Immer das gleiche Bild, ruhiges Liegen und ein paar klägliche Versuche auf die Beine zu kommen. Einmal habe ich das Gefühl, es würde aus ihren Schnabel ein wenig Flüssigkeit rinnen. Und es kommen mir auch Gedanken, die vermutlich vielen Menschen in solchen Situationen kommen, wie zum Beispiel: ich sollte sie füttern (womit und wie), nach Hause tragen (wie und was dort), kranke Tiere greift man nicht an … usw. Irgendwie kläre ich dann für mich, dass es im Moment ausreichend ist, sie jetzt einmal zu schützen, z.B. wenn ein Hund käme oder eine hohe Welle sie wegzuspülen drohte. Weiters sage ich mir, sie ist ein Tier des Meeres und dort wo sie jetzt liegt ist ihr Platz, auch wenn sie stirbt. Trotzdem ist mir das Bild, sie hier jetzt sterben zu sehen ebenso wenig angenehm, wie später den Platz zu verlassen und sie einfach liegen zu lassen. Nun ich bin so in meinen Gedanken und setze meinen Brief mit anderen Themen fort.
Nach einiger Zeit, gut eine halbe Stunde ist vergangen und Monika ist im Wiederkommen, blicke ich auf, wende meinen Blick auch wieder der Möwe zu und sehe, dass sie gerade aufgestanden ist und sich auf ihren 2 Beinen halten kann. Völlig beglückt über diesen Entwicklung, schauen wir beide wieder voller Hoffnung für die Möwe hin … und, und sie breitet ihre Flügel aus, schlägt sie zweimal im Stehen, breitet sie zur Gänze aus, erhebt sich mit einem weiteren Flügelschlag und fliegt knapp über dem Meer im Wind der Sonne entgegen. Wir staunen und schauen ihr nach bis sie unseren Blicken entschwindet. Wir freuen uns wie die Kinder, rufen ihr laut Hurra nach, schwenken die Arme und sind sehr gerührt, es ist uns unbegreiflich.
Wir danken tief bewegt für dieses Erleben, denn diese Erinnerung wird uns wohl nie verlassen.